Quer durch eine sonnige Stadt zur neuen GrimmWelt
Kassel. Hmm. Hier war ich auch noch nicht. Ich drehe mich um und steuere auf einen großen Platz zu. Es geht vorbei an zweckmäßigen Geschäftshäusern, die offenbar eilig nach dem Krieg hochgezogen wurden. Kassel, einst ein durchgängig aus Fachwerkhäusern bestehendes Kleinod, hat es böse erwischt im letzten Weltkrieg. 80 Prozent der Stadt wurden ein Opfer der Alliierten-Bomben. Die Stadt erinnert mich an einen schönen Menschen, der durch einen Unfall entstellt wurde. Lange hat er sich nicht vor die Tür getraut. Doch langsam kehrt das Selbstbewusstsein zurück. So schön wir früher ist er nicht mehr. Aber er braucht sich auch nicht zu schämen.
Kassel hat dazu auch keinen Grund. Die Wilhelmshöher Allee zieht ihre schnurgerade Bahn bergab und bergauf geradewegs auf das in einen Park eingebettete Schloss Wilhelmshöhe zu. Dahinter ragt das Herkules-Denkmal in den Himmel. Hat was! Auch der Friedrichsplatz, den ich gleich erreiche, ist von beeindruckender Großzügigkeit. Auf den Wiesen knutschen Liebespaare. Touristen machen Selfies. Es gibt sie auch hier. Vielleicht hatten sie den gleichen Grund wie ich, nach Kassel zu kommen und stellen nun fest, dass man sich hier wohlfühlen kann. Zumal an einem warmen Spätsommertag.
Ich bin hier, um die GrimmWelt zu sehen. Schon mitten in der Stadt habe ich Hinweis-Schilder entdeckt. Erst zwei nebeneinander: Eines für Fußgänger - ein anderes wies auf den barrierefreien Weg hin. Irgendwann trennten sich die Wege und damit auch die Schilder. Mein Weg führt vorbei an dem großen Friedrichsplatz zur Rechten und dem Fridericianum zur Linken. Hier geben sich internationale Künstler der Gegenwart die Klinke in die Hand. Und: Es ist das Zentrum der alle fünf Jahre in Kassel stattfindenden documenta. documenta? Hat jeder schon mal gehört. Dennoch zur Erinnerung: Die documenta ist die weltweit bedeutendste Reihe von Ausstellungen für zeitgenössische Kunst. Weltweit! In Kassel! Nicht in Berlin oder in Wien oder so.
Noch habe ich die GrimmWelt nicht erreicht. Ich komme auch nicht recht voran, schließlich muss ich ständig Fotos machen. Es geht weiter entlang der "Schönen Aussicht", einer Allee, die ihren Namen zurecht trägt. Immer aufs Neue schöne Blicke auf die Gustav-Mahler-Treppe, die hinunter zum Park führt und auch zur Orangerie. Das ist kein Saftladen, sondern ein prächtiger, schlossartiger Bau, in dem sich die landgräfliche Sammlung wissenschaftlicher Instrumente befindet. Das Ganze erinnert daran, dass Kassel im 16. Jahrhundert ein führendes Zentrum der beobachtenden Astronomie war.
Inzwischen bin ich auf dem Weinberg. Vor mir taucht ein Gebäude auf, das aussieht wie ein Schuhkarton, auf den jemand drauf getreten ist. Es beeindruckt mich, mit welch einfachen Mitteln einem klotzigen Quader eine beschwingte Leichtigkeit verliehen werden kann. Wenig Fenster, doch das Braun des Gemäuers verleiht dem Bau dennoch eine gewisse Wärme. Auf der Südseite ein breiter Treppenaufgang, der an einen Tempelbau erinnert. Von ihm aus gelangt man - bleiben wir erst mal beim Äußeren - auf eine durchgängig aber nur leicht ansteigende Dachplattform, die perfekt für Empfänge, Partys oder Konzerte zu sein scheint. Sie ist es aber nicht, denn angesichts eines nahe liegenden Krankenhauses verbietet sich laute Musik an jedem Wochenende. Doch ab und zu geht schon was. So aber ist es ein Ort zum Verweilen, Ausruhen und Genießen. Der Ausblick auf die Südstadt und die Parkanlagen ringsum ist fantastisch.
Und nun hinein in die GrimmWelt! Warum eigentlich ein Museum über das Werk der Brüder Grimm in Kassel? (Es heißt übrigens nicht mehr "Gebrüder" - aber das ist ein Thema, über das Sprachexperten trefflich streiten können.) Ganz einfach: Jacob und Wilhelm Grimm verbrachten hier dreißig Jahre ihres Lebens. Jacob lebte von 1785 bis 1863, Wilhelm von 1786 bis 1859. Sie bezeichneten ihre Kasseler Zeit als die "arbeitsamste und vielleicht die fruchtbarste Zeit" ihres Lebens. Will sagen: Sie haben so manches zu Papier gebracht in dieser Zeit. Auch - aber beileibe nicht nur - die berühmten Märchen. In einem Informationsblatt des Museums heißt es: "Ihre Errungenschaften im Bereich der Sprach- und Kulturforschung, der Literatur- und Rechtswissenschaften, ihre Reflexion der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen prägen die Nachwelt bis heute."
Und das erfährt, wer sich für das Museum etwa zwei Stunden Zeit nimmt. Die sollte man schon haben. Ich will mal beschreiben, wie ich als Museumsmuffel den Gang durch die zwei Ebenen der GrimmWelt wahrgenommen habe. Schon die Formulierung "zwei Ebenen" sind ebenso räumlich wie im übertragenen Sinne verstehen. Die obere Ebene ist eher die wissenschaftliche, die sachliche Ebene. Man betritt einen Gang und befindet sich unvermittelt in einem Buchstaben-Register. Das macht Sinn, denn die beiden haben den Grundstein für das Deutsche Wörterbuch gelegt, das deswegen auch "Der Grimm" genannt wird. Begonnen haben sie damit im Jahr 1838, abgeschlossen haben sie es - sagen wir mal - nicht so ganz. Es wurde erst 1961, also 123 Jahre später mit dem 32. Band beendet.
Begeistert hat mich die Art der Präsentation eines so staubtrocken wirkenden Themas. Da hängen an der Wand hunderte von Zetteln mit handschriftlichen Notizen der Brüder zu Begriffen und Erfahrungen. Das sieht sehr ordentlich und grafisch Schick aus. Dennoch bekommt man eine Vorstellung davon, wie sich die Zettelwirtschaft der Wissenschaftler Grimm in ihrem Arbeitszimmer gestapelt haben mag. Da steht andernorts ein quadratisches Tintenfass mit einer Kantenlänge von etwa einem Meter, das zeigt, wie viel Tinte sie im Zuge ihrer Korrespondenz mit über 180 Brieffreunden - also wohlgemerkt nicht Facebook-Kontakten - in ganz Europa sie verbraucht haben. Witzig: Vor dem Hintergrund, dass die Grimms sich auch ausgiebig mit deutschen Schimpfwörtern beschäftigt haben, wurde eine überdimensionale, schwarze Muschel installiert, in die man etwas Unflätiges hineinrufen kann, um prompt ein nicht minder unflätiges Widerwort zu kassieren. (Man kann allerdings auch "Frikadelle" hineinrufen. Die Muschel reagiert vermutlich nur auf den akustischen Impuls). Auf jeden Fall ist das ein Spaß für Alt und eben auch für Jung.
Und damit komme ich zu dem, was jeder mit Grimm verbindet, nämlich zu den Märchen. Die haben eine Ebene tiefer ihren Platz. Empfangen werde ich von einem Frosch, genauer vom Froschkönig, der - von einem Lichtkreis umgeben - über den Boden hüpft. Eine Projektion, die niemandem entgeht. Und dann höre ich geheimnisvolle Flüsterstimmen. Und die führen mich in einen tiefen Wald. Ein kleines Märchenwald-Labyrinth, stilisiert durch grüne, bürstenartige Kegel, die von der Decke herabhängen. Das ganze getaucht in schummriges Licht. Und von allen Seiten erlausche ich Stimmen, die von Hänsel und Gretel erzählen oder mich nur tiefer in den verwunschenen Wald locken. Schaurig - ein ganz klein wenig gruselig aber vor allem märchenhaft.
Wer wieder heraus findet aus dem finst'ren Wald, der stößt auf kleine Häuschen, in die man sich hineinsetzen kann. Zum Beispiel ans Bett der Großmutter, auf deren Kissen erst ihr Gesicht. dann das des bösen Wolfs projiziert wird. Kleine Kinder sollte man beim Besuch der Großmutter begleiten.
Mir fällt auf, dass die gesamte Ausstellung sehr modern, also grafisch nüchtern, daherkommt und dennoch die gewollte Stimmung erzeugt. Die stilisierten Bäume, ebenso wie die Häuschen, die nicht in modrigem, braunen Holz gehalten, sondern weiß getüncht sind. Die überaus wertvollen Buchexponate liegen in sachlichen, schwarzen Vitrinen. Der Spruch: "Ich komme mir vor wie in einem Museum", der sagen will: "wie in einem früheren Jahrhundert", passt hier nicht. Die Räume sind hell, sachlich aber nicht kühl. Niemand hat Angst, fest aufzutreten. Berührungsängste mit der Altehrwürdigkeit gibt es nicht.
Ganz einfach: Hinfahren!