Das Schweigen im Bus

Vladi hat es immer etwas eilig. „Los! Weiter geht’s!“ ruft er durch das Fahrerfenster. Wenig später rollt der Reisebus weiter in Richtung polnische Grenze. Danach sind es noch rund 800 Kilometer durch die Nacht bis nach Chelm, eine kleine polnische Grenzstadt an der ukrainischen Grenze. Besetzt ist der Bus mit den beiden Fahrern Vladi und André, dem Dolmetscher Maxim Makartsev und dem Autor dieses Berichtes. Alle drei sind in Russland geboren. Maxim ist in Moskau aufgewachsen. Seit fünf Jahren lebt und arbeitet der promovierte Sprachwissenschaftler am Institut für Slawistik an der Uni Oldenburg. Als er in den sozialen Medien von der Initiative „Oldenburg hilft er Ukraine“ las, wusste er, dass er helfen konnte und musste.

Mehrfach pro Woche schickt die private Oldenburger Initiative einen Bus an die Grenze zum Land, in dem der Krieg ist. Geld ist genug da. Maik Günther rief die Gruppe einen Tag nach Ausbruch des Krieges ins Leben. Maik ist in Oldenburg bekannt wie eine bunte Kuh. Oder auf neudeutsch: Er ist bestens vernetzt. Wenige Tage später hatte die Gruppe über 4000 Mitglieder, einen Mitarbeiterstab von mehr als 200 Ehrenamtlichen, eine Lagerhalle am Stadtrand und ein Büro im Herzen der Stadt, „dem Core“. Und ein Spendenkonto, gefüllt mit über 300.000 Euro.

 

Oliver Dornisch, der Mann in Chelm, bringt das auf den Punkt: „Keine Behörde ist so schnell wie eine private Initiative!“

Als der Bus vor dem Hotel vorfuhr, in dem Betten für die durchnächtigten Fahrer reserviert waren, ist der bevorstehende Tag für Maxim und Oliver ebenso durchgetaktet wie unwägbar. Zeit für einen Kaffee ist noch. Dann geht es nach Janow, etwas außerhalb der Stadt. Auch dieses Auffanglager ist privatem Engagement zu verdanken. Ein Autohaus wurde kurzerhand umgewidmet.

Es ist ruhig. Auf dem Boden, auf dem einst blitzende PKW standen, liegt nun eine Matratze neben der anderen, Darauf keine schreienden Kinder oder weinende Eltern. Es ist einfach nur still. Nur das Titschen eines Balles im Hof ist zu hören. Auf einer grob gezimmerten Theke stehen Getränke. Kaffee wird gereicht, Brot Aufschnitt, Butter, eine warme Suppe. Kinder kuscheln mit Plüschtieren, andere mit einer Katze.  

 

Marzenka begrüßt uns – jeden mit einer Umarmung. Dann berichtet sie, dass sich in der Nacht ein Kind übergeben hat. Oliver greift zum Handy und eine halbe Stunde später treffen Sonja, Steffi, Aenne und Rea im Kleinbus des “Thies Medicenter“ ein. Der Dienstleister aus Itzehoe hat seinen Mitarbeiterinnen einige Tage freigegeben. Sie kümmern sich um das Kind und gleich auch um weitere kleine Verletzungen, von denen keiner etwas bemerkt hat. Die Kinder hatten zu fragen sich nicht getraut.

In der Zwischenzeit laufen die Drähte zwischen Chelm und Oldenburg heiß. Die Fragen begannen immer mit „Ist noch Platz für…“ oder „Können wir noch mitnehmen…“. Maik Günther hat es inzwischen nicht mehr leicht, in Oldenburg noch Unterkünfte zu finden. Aber er holt auch Niemanden nach Norddeutschland, ohne eine Bleibe für sie. Ein Hotelier in Norden allerdings hat viel Platz in Ferienwohnungen angeboten. Und – noch besser –  er hat auch Arbeit für die Menschen, die immer gewohnt waren, für sich selbst zu sorgen.

 

Maxim erklärt derweil, listet auf, telefoniert, hört sich Schicksale an, achtet darauf, dass Gruppen nicht getrennt werden. Es ist inzwischen auch notwendig, für Vertrauen zu der Organisation zu werben, in deren Bus die entwurzelten und verängstigten Menschen steigen sollen. Eine Frau möchte gerne in Braunschweig von einem Bekannten an der Autobahn abgeholt werden. „Das liegt auf dem Weg. Natürlich halten wir dort an.“

Zwei Stunden später geht es zu einem städtischen Auffanglager in Chelm. Die meisten der achtsam in Reihe gestellten Pritschen sind leer. Der stete Strom an Geflüchteten aus Lwiw versiegt derzeit. Aber ans Abbauen denkt hier noch keiner. Man wisse nie, wie sich die Dinge in und um Lwiw entwickeln. Und es spült auch immer wieder ein ankommender Bus Menschen ins Foyer der Veranstaltungshalle, die ihre Trollies hinter sich herziehen, große Plastikbeutel schleppen und ihre müden Kinder tragen.

An einem Tisch dort leistet Maxim ganze Arbeit. Auf polnisch, ukrainisch und russisch. Eine Familie hat ein nie für möglich gehaltenes Problem. Der Mann und ein Sohn hat eine Aserbeidschanischen Pass, Frau und Tochter den Ukrainischen. Jetzt gilt für eine Familienhälfte das Schengener Flüchtlingsabkommen, für die andere gilt Visa-Freiheit. Ein Problem, das nicht Maxim und auch nicht „Oldenburg hilft der Ukraine“ lösen können. „Es war so schlimm, ihnen ‚Nein“ sagen zu müssen“, erinnert sich Maxim wenig später. Da rollte der Bus schon wieder in die Nacht hinein. Für die 40 geflüchteten Menschen buchstäblich eine Fahrt in ein schwarzes Loch. Sie hatten ihre gesamte Habe verloren, ihre Lieben, ihr gesamtes Leben und die Kontrolle darüber. 

 

Und wieder war da dieses Schweigen im Bus.